Im Labyrinth der Verdammten
von H. P. Usher
»vollständig und zeitgemäß überarbeitete Fassung«
Der Dschungel hatte die Mauerreste völlig überwuchert. Al-
les war dem Dschungel zum Opfer gefallen.
Der Himmel schimmerte in einem hellen Rot. Die Sonne ging
unter. Der schmale Felsstreifen, der fast übergangslos ans dich-
te Blattwerk des bengalischen Dschungels stieß, glühte unter
dem Licht, als wäre er von innen her beleuchtet.
Dichtstehende Farngewächse waren zu sehen, dahinter bunt
schillernde Sträucher mit großen dickfleischigen Blättern.
Ein vegetationsloses Felsplateau breitete sich aus, war von
der üppigen Wildnis wie abgeschnitten. Große Bäume, deren
ausladende Wipfel dem rötlichen Abendhimmel entgegenrag-
ten, und eine fast undurchdringliche Wand aus Blattwerk bil-
deten die Grenze.
Dahinter – nichts als kahles, zerklüftetes Felsgebirge, so weit
das Auge reichte.
Diese Atmosphäre hatte etwas Bedrohliches, Unheimliches an
sich.
Das Unbekannte war beinahe körperlich zu spüren …
»Forschungen im Ungewissen bergen manchmal schon Gefahren
und Risiken«, sagte der Mann in dem hellbeigen Tropendress. Sein
Haar war grau meliert, seine Augen waren kristallklar, und etwas
Jugendliches haftete ihm an.
Professor Mortimer glaubte, einer großen Sache auf der Spur zu
sein, von der bisher jedoch nur die Spitze des Eisbergs zu sehen war.
Die tropische Luft war feucht und schwül. Seit Wochen war der
Regen ausgeblieben. Die Felder trockneten aus, das Vieh drohte zu
verdursten, und alles wartete auf den erlösenden Regen. Mensch
und Tier litt unter der mörderischen Hitze. Der indische Kontinent
war förmlich zum Backofen geworden.
Die untergehende Sonne sah aus wie ein glutroter Ball aus flüssi-
ger Lava, der langsam in einem Meer von Blau versank.
Die trockenheiße Luft war erfüllt vom Fauchen und Zischen tieri-
scher Existenzen.
Tausend Gedanken gingen dem Professor in diesen Sekunden
durch den Kopf. Mit einem Papiertaschentuch wischte er sich den
klebrigen Schweiß von der Stirn. Er keuchte und konnte in dieser
treibhausklimaartigen Atmosphäre nur flach und langsam atmen.
Mortimer blickte auf seinen Assistenten, der mit einem Zobelhaar-
pinsel vorsichtig einen grau-grünen Mauerrest mit reliefartigen Seg-
menten vom rot-braunen Staub befreite. Ron Colerado unterbrach
seine Präparierarbeit und hob das Kinn, als der Professor sich ihm
näherte.
»Wie sieht’s aus, Ron?«, fragte der jugendlich wirkende Archäolo-
ge und hustete trocken, weil ihm die staubhaltige Luft schwer zu-
setzte.
Ron Colerado, ein Sportstyp, einsachtzig groß und dunkelblond,
richtete sich ächzend auf. Sein beschmutzter Kittel war schweiß-
durchtränkt, und große dunkle Flecke zeigten sich in den Achsel-
höhlen.
Sie waren dabei, einen Tempel freizulegen, der weit mehr als tau-
send Jahre alt war. Geologische Untersuchungen hatten das zwei-
felsfrei bestätigt.
Die beiden vermuteten darin einen Kulttempel, der Kali Yug, der
Rachegöttin, geweiht war.
Am Vorabend waren die indischen Arbeiter auf ein riesiges Ge-
wölbe aus schwarzem, gewachsenen Fels gestoßen. Auf Grund ihres
Aberglaubens jedoch hatten sie nicht gewagt, das düstere Loch zu
betreten.
Der schwarze Stein war massig, feucht und scheinbar uralt. Nack-
ter, naturgewachsener Felsstein schien von Menschenhand – das
vermutete man zunächst – ausgehöhlt worden zu sein.
Aus der dunklen, feuchten Düsternis wehte noch immer ein Ge-
ruch von Moder, Grab und Verwesungsdünsten.
»Sehen Sie sich noch mal das Relief an, Professor«, bat Ron Colera-
do und legte den Pinsel beiseite.
James Mortimer ging neben seinem dienstbeflissenen Assistenten
in die Hocke. Seine klaren Augen fixierten das wie poliert wirkende
Steinfragment. Er kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zu-
sammen.
»Überbleibsel der heidschukkischen Kultur, zweifellos«, raunte er.
Die ganze Ausgrabungsarbeit dauerte nun schon über ein halbes
Jahr. In dieser Zeitspanne hatte man mehr als zweihundert Tonnen
Gestein abgetragen.
Im Grabungsfeld war man auf wertvolle Funde gestoßen, die von
einer Handwerkskunst der alten Heidschukken zeugten. Jedoch
wusste noch immer niemand, wie der alte Tempel zu bezeichnen
war, und man hatte ebenso wenig eine Ahnung, was es mit ihm auf
sich hatte.
Seltsame, bizarre Steinrelikte waren gefunden worden, die so alt
wie die Menschheit selbst schienen und deren Herkunft sich Morti-
mer nicht erklären konnte. Seltsame Zeichen und Bilder waren darin
eingeritzt, die er nicht deuten konnte. Diese Tatsache stimmte ihn
nachdenklich, da er die gesamte Zeichensprache der indischen
Heidschukken perfekt beherrschte. Diese rätselhaften Zeichen schie-
nen fast von einer anderen Welt zu sein …
Röhrenartige Einschnitte hatte man gefunden, die tief in den Fels
führten und deren Wände mit seltsamen Zeichnungen bemalt wa-
ren, die fremde Wesen und heidschukkische Götzen darstellen
mochten. Weiter und tiefer war man noch nicht vorgedrungen.
Seine Vermutungen fand der Professor allerdings bestätigt.
Es konnte sich wirklich um ein gigantisches Tempelfragment han-
deln, das von einer vergessenen Kultur zeugte.
»Der Mauerrest zeigte fast die gleichen Reliefzeichnungen, wie wir
sie auch in den schwarzen, röhrenartigen Tunneln entdeckt haben«,
gab Ron Colerado zu bedenken.
»Das hab ich geahnt«, erwiderte Professor Mortimer und zog die
buschigen Brauen zusammen. »Anfangs glaubte ich, dass die Mau-
errelikte nicht in Zusammenhang mit den Gewölbetunneln stehen,
müssen Sie wissen, Ron.«
Staub und grauer Schmutz der Jahrtausende hafteten auf dem
graugrünen Mauerrest.
Ron Colerado hatte seine liebe Mühe damit gehabt, die Oberfläche
wenigstens zum Teil freizulegen, das Übrige wurde von einer stein-
artigen Masse aus Sand und Lehm überdeckt.
Die Stelle, an der er gekratzt und geschabt hatte, war zu Tage ge-
treten. Eine kleine, in den Stein eingemeißelte Figur wurde erkenn-
bar.
Es handelte sich um ein Abbild der Göttin Kali, achtarmig und be-
drohlich aussehend.
Sie wurde eingegrenzt von einem Ring dunkler, kugelförmiger
Gebilde, die entfernt an menschliche Knochenschädel erinnerten.
»Komisch«, entfuhr es Mortimer. »Von diesem Schädelkreis in
Verbindung mit der Rachegöttin Kali habe ich noch nie etwas ge-
hört.«
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